Gesundheitskompetenz Früher u. Heute – die entscheidende Rolle der Naturheilvereine – Folge 5
Von Prof. Dr. Karin Kraft
Die Motivation für diesen Artikel waren zwei Fragen, die sich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre ergeben haben, nämlich 1. Was sind die Hintergründe für den großen Erfolg der Naturheilvereine Anfang des letzten Jahrhunderts? Und 2. Warum nimmt das Interesse der Bevölkerung an Naturheilvereinen in den letzten Jahren plötzlich so stark ab?
Einflüsse einer veränderten Gesundheitspolitik seit den 1990er Jahren
Inzwischen hatte sich der gesundheitspolitische Hintergrund in Deutschland stark verändert. Um die hohen Kosten der deutschen Wiedervereinigung zu bewältigen, mussten an vielen Stellen Einsparungen erzielt werden. Der ab den 1970er Jahren in den USA entwickelte Neoliberalismus schien hier die richtigen Konzepte zu liefern. Alle Naturheilverfahren, auch diejenigen, deren Kosten bisher von gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen worden waren, wurden deshalb dem zweiten Gesundheitsmarkt zugeordnet. Begründet wurde dies damit, dass die Bevölkerung diese nebenwirkungsarmen Methoden in Eigenregie anwenden und die vergleichsweise geringen Kosten selbst tragen könne. Damit schaltete man aber gleichzeitig die diesbezüglich fachkundigen ÄrztInnen und das entsprechend qualifizierte Personal von der Versorgung vieler PatientInnen aus. Zugleich nahm deshalb der Wellnessbereich, der zuvor nur eine eher unbedeutende Rolle gespielt hatte, Anfang der 2000er Jahre stark an Umfang zu. Das Angebot an naturheilkundlichen Verfahren und Methoden der außereuropäischen traditionellen Medizin wechselte damit aus den Rehabilitationskliniken und den privat geführten Spezialkliniken weitgehend zum Gesundheitstourismus, was durch Förderungen mit öffentlichen Mitteln teilweise unterstützt wurde. Die Problematik der mangelnden Nachhaltigkeit und der unterschiedlichen Qualität der Maßnahmen war (und ist) dem zahlenden Publikum jedoch kaum bekannt. Der Fachkräftemangel begann hier sehr früh, weil die Gehälter in diesem Bereich niedrig und die Arbeitsbedingungen eher ungünstig waren. Zudem wurde seitens der Gesundheitspolitik wenig unternommen, um die seit ca. 10 Jahren als Problem identifizierte geringe Gesundheitskompetenz der Allgemeinbevölkerung zu stärken. Eigentlich hätten diese Entwicklungen die Naturheilvereine eher stärken müssen, zumal die derzeitigen großen Probleme des Gesundheitswesens immer deutlicher offenbar werden. Sie reichen vom 6 Ärztemangel und Verschwinden von Apotheken in den ländlichen Regionen über lange Wartezeiten bei Facharztterminen bis hin zu den Kliniken, die aufgrund finanzieller Zwänge überall ein ähnliches Leistungsspektrum bei allerdings unterschiedlicher Qualität anbieten, wogegen schlecht vergütete, aber notwendige Leistungen nicht mehr vorgehalten werden.
Vereine erfüllen menschliche Grundbedürfnisse
Im Rückblick hatten die großen Erfolge der (Naturheil)vereine Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Ursachen: Die bedeutendste war der Wandel von einem feudalen Agrarstaat zum Industriestaat. Durch die völlig neuen Anforderungen an die Gesellschaft funktionierten die alten Modelle des Zusammenlebens nicht mehr. Die Vereine hatten somit die sehr wichtige Aufgabe der Förderung des menschlichen Zusammenhalts. Aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen der Vereinsmitglieder konnten sie individuell zugeschnittene Lösungen für die neu aufgetauchten vielfältigen Probleme erarbeiten und erfolgreiche Strategien zudem öffentlich zu verbreiten. Die Förderung eines respektvollen menschlichen Zusammenhalts und die Unterstützung ihrer Mitglieder einschließlich der Erarbeitung von Problemlösungen sind bis heute die wichtigsten Aufgaben von Vereinen. Deshalb gelten sie als Grundpfeiler der Demokratie. Auch wenn Kriege, ideologische Unterwanderung und staatliche oder wirtschaftliche Restriktionen zu starken Einbrüchen geführt haben, haben sich die Vereine in den letzten 120 Jahren immer wieder davon erholt, weil sie diese menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen. Dies trifft auch auf die Naturheilvereine zu, wobei sich das Spektrum der gesundheitlichen Probleme und damit die Anforderungen an die Vereine im Zeitverlauf stark gewandelt haben. Die Naturheilvereine spezialisierten sich dabei auf die gefährdete Gesundheit ihrer Mitglieder als Folge von Industrialisierung und gesellschaftlichem Wandel. Von den sehr preiswerten, durchaus oft wirksamen und zudem leicht anwendbaren Lösungen bei gesundheitlichen Problemen konnten auch die ärmeren Bevölkerungskreise profitieren. Aus heutiger Sicht vermitteln Naturheilvereine also seit über 120 Jahren Gesundheitskompetenz, die eine wichtige Ressource im Umgang mit Krisen ist. Gerade in Krisensituationen ist es entscheidend, die richtigen Informationen zu finden, ihre Bedeutung und Glaubwürdigkeit einzuschätzen, sie auf die eigene Situation zu übertragen und konstruktiv für persönliche Entscheidungen und das eigene Gesundheitsverhalten zu nutzen. Naturheilvereine haben damit eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion, denn die Gesundheitskompetenz ist sehr ungleich verteilt – und damit auch die gesundheitlichen Risiken. Deshalb sind in Krisenzeiten die sozial Benachteiligten besonders gefährdet. Soziale Medien: Die vermutliche Ursache für das in letzter Zeit abnehmende Interesse an (Naturheil)vereinen Seit dem Jahr 2006 wurden soziale Medien zunehmend verfügbar. Sie beanspruchen viel Zeit, bei den jüngeren Menschen sind es täglich zwischen 60 und 90 Minuten. Infolge des hinterlegten Algorithmus werden kontroverse und emotional aufgeladene Inhalte bevorzugt, komplexe Inhalte werden vereinfacht dargestellt und dementsprechend werden einfache Scheinlösungen von den NutzerInnen akzeptiert. Dies wird auch vom Esoterikmilieu intensiv genutzt. So wettern z. B. InfluencerInnen mit großer Ausdauer gegen die moderne Medizin und verbreiten Verschwörungstheorien. Gleichzeitig werben sie am laufenden Band für Nahrungsergänzungsmittel, obwohl in der EU Aussagen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten durch diese Produkte beziehen, verboten sind. Sie vermitteln also eine Pseudogesundheitskompetenz, womit sie auch das Hauptanliegen der Naturheilvereine unterminieren. Weltweit werden inzwischen mehr als 80.000 verschiedene Nahrungsergänzungsmittel zum Kauf angeboten. Dass diese Strategie erfolgreich ist, zeigen die Verkäufe dieser Produkte in den USA. Dort betrug der Umsatz im Jahr 2023 über 150 Milliarden US-Dollar und erreichte damit den Umsatz der verschreibungspflichtigen Medikamente. 7 Dieses Beispiel kann sogar als Erklärungsmodell für das derzeitige allgemein beklagte Vereinssterben herangezogen werden. Soziale Medien haben eine parasoziale Funktion: Scheinbar erfüllen sie das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten auf einfache und unkomplizierte Weise. Inzwischen erkennen aber immer mehr Nutzer, dass diese Kontakte emotional unbefriedigend sind. Zudem nimmt die Erkenntnis zu, dass sie oft Fake-News verbreiten und zum Kauf überflüssiger Produkte verleiten. Es bleibt zu hoffen, dass die Medienkompetenz in der Bevölkerung rasch weiter zunimmt, dann haben auch die dringend benötigen Vereine (und die Demokratie) wieder eine Chance. Die Digitalisierung als Chance für die Naturheilvereine Die konkrete Anwendung von wissenschaftlich fundierten naturheilkundlichen Verfahren kann digital leicht verbreitet werden. Hinsichtlich ihres individuellen Nutzens sind sie den üblichen Wohlfühlvideos auf jeden Fall haushoch überlegen. Die expertengestützte Anwendung von Naturheilverfahren, die gezielt durch kreative, leicht zugängliche digitale Botschaften und Ratschläge unterstützt wird, kann vielfältig insbesondere bei leichteren gesundheitlichen Problemen helfen. Zugleich können die in den Naturheilvereinen organisierten Gesundheits- und Lebensstilexperten den für den Normalbürger undurchdringlichen Dschungel an Informationen gezielt vorab sichten und dadurch eine große Hilfestellung bieten. Damit können die Vereine mit der Unterstützung des Deutschen Naturheilbundes ihrer großen Aufgabe, der niedrigschwelligen und kostengünstigen Vermittlung von Gesundheitskompetenz, weiterhin gerecht werden.
Den kompletten Artikel finden Sie hier
Im Oktober 2024